HAUSFÜHRUNG #18, November 2025
Kunstbetrachtung
Schatten der Erinnerung: “Lies That Bled Blue” von Soufia Erfanian
Mit der achtzehnten Ausgabe unserer HAUSFÜHRUNGEN geben wir erneut einen tiefen Einblick in unsere aktuelle Ausstellung, die durch wunderbare und vielfältige künstlerische Positionen geprägt ist. Im Mittelpunkt steht die Serie “Lies That Bled Blue” von Soufia Erfanian, die uns in Erinnerungen ihrer Kindheit führt. Die Farbgebung wirkt wie in einer Traumfrequenz und erscheint unwirklich. Die Figuren nehmen den blaugrauen Ton ihrer unbestimmten Umgebung an. In einer vermeintlich familiären Szenerie wirken die Protagonisten trotz räumlicher Nähe isoliert voneinander, wodurch das Gefühl der Distanz durch die kühlen Farben deutlich spürbar wird. Eine menschliche Figur reicht mit abgewandtem Blick ihre Hand in Richtung eines kleinen Mädchens. Die kostümartige Kleidung, die geschminkten Augen und das anliegende Haar der Figur rufen die Assoziation einer Pantomime hervor, die nichts sagen kann, maskiert ist, sich verkleidet und das wahre Ich verbirgt. Dieses Ausüben einer Rolle verweist auf die Herkunft von Soufia Erfanian. Ihre im Iran erlebte Kindheit war durch das strenge islamische Regelwerk ebenso geprägt wie durch Verlust, Trennung und Schweigen.
Die Hand des kleinen Mädchens ist zu einer Faust geballt, als könne es die Situation kaum noch aushalten. Während der Blick des Kindes auf die ihr gereichte Hand gerichtet ist, weisen die Füße des Mädchens in die entgegengesetzte Richtung, was den Eindruck verstärkt, dass es nicht dort sein möchte, wo es sich gerade befindet. Die Sehnsucht nach Verbindung wird durch die farblich hervorgehobenen Hände sichtbar. Die Hand, die dem Mädchen gereicht wird, besitzt dieselbe lebendige Farbgebung wie das Mädchen selbst. Hinter dem Kind steht im Schatten eine weitere Figur mit Hörnern auf der Stirn, die sich selbst fest umschlingt. Die Geste kann als Schutzhaltung, als Ausdruck von Scham oder als narzisstische Gebärde gelesen werden. Die beiden großen Figuren könnten als symbolische Darstellung der im Iran vorgeschriebenen Auslegung von Richtig und Falsch interpretiert werden. Sie stehen für funktionale Anpassung und für das vermeintlich sündhafte Selbst, das entsteht, wenn die erwartete Rolle nicht erfüllt wird.
Zu den Füßen der linken Figur scheinen sich züngelnde Flammen zu erheben, die an die Darstellung des Dschinns erinnern. Der Dschinn spielt im Koran eine wichtige Rolle und gilt neben Menschen und Engeln als eine von Gott erschaffene Wesenheit, die aus rauchlosem Feuer hervorgebracht wurde. Im Volksglauben kann der Dschinn von Menschen Besitz ergreifen und sie in den Wahnsinn treiben. Dies könnte eine weitere Ebene der symbolischen Kraft dieses Werkes darstellen, da Themen wie Wahnsinn, Kontrollverlust, Schuld, Sünde und die große Angst, für Verfehlungen bestraft zu werden, mitschwingen. Trotz der Einsamkeit, der Wut und der Angst, die aus dem Werk sprechen, bleibt die Verbindung zu sich selbst und zu anderen nicht vollständig abgerissen. Die Serie vermittelt ein Wechselspiel aus Selbstbehauptung und dem Bedürfnis nach Nähe und verdeutlicht die komplexen emotionalen Ebenen, die Soufia Erfanian in ihrer Kunst erfahrbar macht
Ausstellungsansicht von Soufia Erfanian im Haus. Kunst. Mitte., Ausstellung EXIL: KUNST OHNE GRENZEN, © Michael Lüder

